Leseprobe

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Ralph Tiede

Mal ganz weit weg

Hilde, wo sind meine Socken? Verzweifelt ruft Kurt aus dem Schlafzimmer abwärts in den Flur.
Natürlich in der Schublade. Dort, wo sie immer liegen, erwidert seine Frau – wenig hilfreich für ihn.
Dabei hat er bereits alle Türen des großen Kleiderschranks geöffnet, sämtliche Fächer durchgesehen. Nirgendwo entdeckt er die zusammengerollten Baumwollzwillinge. Sonst legt sie ihm die doch auch immer hin. Warum heute nicht? Er ist schon sauer, bevor er überhaupt fertig angezogen ist.
Die schweren Tritte seiner zunehmend korpulenten Angetrauten lassen das verzinkte Geländer leicht erzittern, als sie sich daran hochziehend, pustend die Stufen nach oben kämpft. Eigentlich ist sie gerade ausreichend damit beschäftigt, das gemeinsame Frühstück auf den Küchentisch zu bringen. Sie will allerdings vermeiden, dass sie später die ganze Wäsche zusammenlegen muss. Erfahrungsgemäß wühlt ihr Ehemann bei der Suche nach seiner Kleidung alles durcheinander.
Hier, erklärt sie resolut und hält ihm einen faustgroßen schwarzen Stoffball vors Gesicht, den sie aus der Eckkommode gezogen hat, die vermutlich schon ihre Urgroßmutter benutzte.
Ach, da sind die, wundert er sich.
Ja, und zwar schon, seit wir hier eingezogen sind, antwortet sie. Für ihn völlig unverständlich, klingt das ein wenig genervt. So früh am Morgen und bereits schlecht gelaunt. Kann er gar nicht verstehen.
Der Duft von frisch gefiltertem Kaffee und gerade vom Bäcker besorgten Brötchen vertreibt seinen kleinen Ärger von eben. Den großen lässt er noch nicht an sich heran.
Und, was sollen wir nun machen? Hilde mustert ihn nachdenklich.
Weiß nicht, murmelt er mit vollem Mund und spült den zerkauten Bissen aus Teig, Butter und Marmelade mit einem Schluck Orangensaft hinunter.
Hm, überlegt sie, vielleicht guckst du mal in die Zeitung. Da findet sich bestimmt was.
Ja, erwidert er. Davon überzeugt ist er nicht.

Die Arme auf der Betonbrüstung verschränkt, beobachtet Kurt ein Spatzenpärchen, das Zweige, Grashalme und Moosbröckel in die Dachrinne ein paar Meter links von ihm bringt. Immer, wenn sie die Last aus ihren winzigen Schnäbeln abgelegt haben, genießen sie einen Moment lang die Aussicht. Mit ihren dünnen Krallen an die Aluminiumkante geklammert, tschilpen sie angeregt miteinander.
Was die Zukunft bringt, kümmert sie nicht. Sie tun einfach, was der Instinkt ihnen sagt, sinniert er missmutig. Er dagegen macht sich um sie beide große Sorgen. Grübelt darüber, was wohl in einem Jahr sein wird. Ob er dann auch noch hier die Vögel beim Nestbau beobachten kann.
Aus der geöffneten Balkontür dringt Geklapper und Geklimper von gegeneinander stoßendem Porzellangeschirr und Edelstahlbesteck. Hilde ist beim Abwaschen, in ihrem Element. Kurt weiß, das macht sie heiter. Fröhlich summt sie die Melodie eines Schlagers.
Sein Blick schweift nach unten, auf den Hof mit dem Garagenkomplex. Graffiti-Tags verunzieren einige der Metalltore. Eine Dame in seinem Alter, deren rötlich gefärbtes Haar der Kopfhaut bereits unbedeckten Raum überlassen hat, lässt ihres aufschwingen. Er erkennt sie als eine seiner Nachbarinnen.
Was für eine Unordnung, entfährt es ihm ungewollt laut, als das Chaos dahinter sichtbar wird: Das Innere ist beinahe bis zur Schwelle mit Kartons, Kisten, Plastiksäcken und allerlei Gerümpel überfüllt.
Wahrscheinlich nicht schnell genug, um unerkannt zu bleiben, tritt er ein paar Schritte zurück. Er nimmt noch wahr, dass sie genau in seine Richtung aufblickt. Das fehlt gerade noch, denkt er und schämt sich ein wenig für seinen unbedachten Ausruf.
Na, das gibt ein Getratsche, befürchtet er. Und mal wieder seinetwegen. Am liebsten wäre er jetzt ganz woanders. Weit weg von dieser alteingesessenen Eigentümergemeinschaft aus griesgrämigen Nörglern mit reichlich Zeit, aber bemerkenswert wenig Herz.
Hilde beginnt zu singen. Ich war noch niemals in New York, intoniert sie aus voller Brust.
Ihr immer noch klarer Sopran lotst glückliche Erinnerungen an einen großartigen Konzertbesuch – sein Geschenk zu ihrem Sechzigsten – sicher durch das Gedankenlabyrinth aus Verärgerung und Resignation in sein Bewusstsein. Augenblicklich lächelt er über das ganze Gesicht, freudig und verschmitzt zugleich.
Seitdem sind ein halbes Dutzend Jahre vergangen, längst Zeit, sie noch einmal überbordend glücklich zu machen, beschließt er unanfechtbar. Aufkeimende Bedenken lässt er gar nicht erst zu. Endlich Gelegenheit, um neue Eindrücke zu sammeln. So viele, dass für den übellaunigen Sorgen-Irrgarten in seinem Hirn kein Platz mehr bleibt.
Er blättert nun doch in der Zeitung, schlägt die Seiten mit den bunten Reiseangeboten auf. Da ist es – jene Werbeanzeige, die er schon oft sehnsuchtsvoll betrachtet hat. Das machen wir, verkündet er entschlossen, hält sie ihr hin und deutet auf die winkenden Menschen hinter den Fenstern in der Krone der Freiheitsstatue.

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