Leseprobe
Ralph Tiede
Feuerrot und wasserblau
Beim Gedanken daran, was ihm heute wohl bevorsteht, schlägt Kevin heftig mit dem Löffelrücken auf die Cornflakes in der Milch. Dadurch verunziert er die hellbraun gemaserte Tischplatte mit weißen Flecken und Spritzern. Sein Mittelfinger zieht sie zu einem Labyrinth aus schmierigen Spuren zusammen, um der Kleckserei zumindest halbwegs einen Sinn zu verleihen.
„Hör auf damit!“, fordert seine Mutter ärgerlich und hebt die Schüssel hoch, um die Spuren seiner halb unterdrückten Wut und hilflosen Verzweiflung wegzuwischen – die ihn sogar ein wenig benommen gemacht haben.

„Wird bestimmt nicht so schlimm“, sagt sie nun sanfter, um ihn zu beschwichtigen. Resigniert presst er die Lippen zusammen und schluckt.
Was weiß die schon, denkt er und fühlt sich – wie so oft in letzter Zeit – völlig unverstanden. Niemand hat ihr jemals „Feuermelder“ oder „Auf dir brennt’s!“ hinterhergerufen. Kein Wunder – sie hat ja kastanienbraunes Haar.
Ihr Versuch, ihn zu beruhigen, hilft ihm genauso wenig wie das ewige „Lass die doch rufen“ seines Vaters. Anfangs hat er das sogar befolgt – nach dessen erneutem Jobwechsel, der eher einer Flucht glich, und dem unvermeidlichen Umzug im letzten Frühjahr. Doch dafür musste er Prügel einstecken, sich aus Schwitzkästen winden – und letztlich wie ein Feigling vor seinen Peinigern weglaufen.
Sich in dem für ihn etwas hinterwäldlerischen Nest nahe der Ostsee als Zugezogener – und obendrein mit seinem Rotschopf gebrandmarkt – bei der Dorfjugend Respekt zu verschaffen, brachte ihm anfangs viel Ärger ein.
Aber er gab nicht auf, erkämpfte sich Anerkennung. Und schließlich begann man endlich, ihn zu akzeptieren: Bei Geburtstagseinladungen wurde er nicht mehr übergangen und auf dem Bolzplatz ließ man ihn ohne Murren und Stänkern mitspielen. Vieles wurde besser. Beinahe sogar okay.
Bis er eines Tages zu der inzwischen fast jährlich abgehaltenen „Familienkonferenz“ hinzugeholt wurde. Die er zuerst so sehr herbeigesehnt, jedoch dann immer mehr gefürchtet hatte. Weder Argumente noch Bitten brachten seinen Vater davon ab, wieder mal alles hinzuschmeißen.
Und nun steht Kevin garantiert erneut das Martyrium als Frischfleisch-Mobbingopfer bevor. Er kann sich nicht vorstellen, noch einmal ganz von vorne anzufangen. Wozu auch, da er nach ein paar Monaten sowieso wieder seine Habseligkeiten in Kartons packen und auf den Möbelwagen laden muss? Und gezwungen ist, mühsam gewonnene Freunde zurückzulassen.
Seine Mutter stellt ihm einen Teller voller Apfelscheiben hin. Er beißt von einer ab und neutralisiert den sauren Geschmack, der seine Zunge gleich ein bisschen reizt, mit einem Löffel süßer Müslipampe.
„Wirst schon sehen, das wird heute ein toller Tag für dich", bemüht sie sich, ihn aufzumuntern.
„Ja, ganz sicher“, erwidert er, wenig hoffnungsvoll und mürrisch. Nach einem flüchtigen Blick auf die Wanduhr greift er zum Handy, ruft die Fahrplan-App auf.
Die nächste Straßenbahn, die ihn zum Schulzentrum bringt, kommt in neun Minuten. Bis letzte Woche noch hat er nicht einmal so lange gebraucht, um vom Küchenstuhl bis zu seinem Platz im Klassenzimmer zu gelangen.
Unbewusst seufzt er. Sie legt ihre Hand auf seine. Doch er entzieht sich ihr. „Ich muss los“, sagt er nur. Im Gehen stülpt er die Kapuze über und schultert seinen Rucksack.
Falsch auszusteigen, muss Kevin wohl nicht befürchten. Etwas eingezwängt zwischen lärmenden Kindern und schläfrigen Jugendlichen, die unter Garantie alle dasselbe Ziel haben wie er, sieht er sich in dem überfüllten Gelenkwagen um.
Es wundert ihn ziemlich, dass offensichtlich niemand der Kleineren weder angepöbelt, in die Mangel genommen oder sonst wie aufgezogen wird. Vermutlich sind die Halbstarken so früh alle viel zu müde, um aus Langeweile und Übermut einen Streit oder sogar eine Schlägerei zu provozieren. Wenn er früher einmal bei seinem besten Freund, der ein paar Dörfer weiter wohnte, übernachtet hatte und morgens mit ihm ausnahmsweise im Schulbus zum Unterricht fuhr, ging es nie ohne Gerangel, Geschrei oder Geheul ab.
Kevin bemerkt, dass um viele Handgelenke derer, die sich an den Stangen und Schlaufen festhalten, zentimeterbreite Vinylbänder baumeln. Sicher hat vor kurzem eine beliebte Band ein Konzert gegeben. Kein Wunder, dass die Teenager stolz darauf sind, dass auch sie dabei gewesen sind. Aber um welche berühmte Gruppe es sich handelt, kann er nicht entziffern. Dafür steht der nächste Fan zu weit von ihm entfernt, ist die Schrift auf dem Kunststoff-Armreif zu klein.
Sehr wahrscheinlich ist sie in der gläsernen Multifunktionsarena aufgetreten, die ihm bei der spontanen Stadtrundfahrt mit seinem Vater gestern Abend sofort aufgefallen war – nicht nur wegen ihrer Größe, sondern vor allem aufgrund der spektakulären, vielfarbigen Laserlicht-Illumination, von der er noch lange danach begeistert geschwärmt hat. Bis seine Eltern versprochen haben, ihm demnächst ein teures Ticket für eine dort stattfindende Veranstaltung seiner Wahl zu schenken. Wenigstens darauf freut er sich schon.

Bei seinem neugierigen Rundblick fällt ihm einige Meter weiter vorn ein hochgewachsenes Mädchen auf, das wie er in Fahrtrichtung schaut. Ihre langen, ursprünglich blonden Haare wallen ihr über den Rücken. In hellen Blautönen gefärbt und breitsträhnig ineinander verwoben, wirken sie wie kräuselnde Wellen auf dem Meer bei mäßiger Brise.
Kann sein, er hat zu lange fasziniert in ihre Richtung gestarrt. Denn plötzlich dreht sie sich um und guckt ihn direkt an. Ein Grinsen huscht über ihr Gesicht. Reflexartig zieht Kevin seine Kapuze ein wenig tiefer.
Mit einer unmissverständlichen Geste bedeutet sie ihm, die abzunehmen. Oh nein, das macht er ganz bestimmt nicht. Vielleicht hat sie eine Strähne hervorlugen sehen und will, dass er sich schon jetzt – nach nicht einmal einer Viertelstunde in dieser für ihn beängstigend ungewohnten Großstadtumgebung – zur Zielscheibe von Spott und Lästereien macht. Vehement verneinend schüttelt er den Kopf. Aber ihre Lippen formen lautlos ein „Doch. Bitte.“
Er stellt sich vor, was passiert, wenn er nachgibt; seinen feuerroten Schopf wie das Dach eines Leuchtturms präsentiert: Abrupt verstummt jede Unterhaltung. Mit offenen Mündern und aufgerissenen Lidern wird er hundertfach beäugt. Dann kommt der erste blöde Spruch, belohnt von Gelächter. Und seine Wangen verfärben sich zusätzlich dunkelrosa.
Glücklicherweise bleibt ihm das noch erspart. Zischend geben die sich öffnenden pneumatischen Türen der drängenden Menge, die ihn etwas unsanft auf den Bürgersteig schiebt, den Weg nach draußen frei.
Dort verharrt er beeindruckt. Vor ihm erhebt sich ein bunt angestrichener, moderner Gebäudekomplex, dessen Fensterreihen mit Bildern und Figuren geschmückt sind. Kevin ist angenehm überrascht; hatte er doch eher einen unansehnlichen, vom Regen verwaschenen Betonklotz erwartet.
Plötzlich spürt er im Nacken ein kurzes Zerren an seinem Hoodie und die nun freigelegten Haare wehen im leichten Spätsommerwind, als wären es züngelnde Flammen. Niemand der Vorbeieilenden nimmt Notiz davon.
„Ist doch viel zu warm dafür“, sagt das Mädchen von eben mit dem Ozean-Look. Ihr freundliches Lächeln entwaffnet seine Entrüstung. Nun hat sie tatsächlich ihren Willen durchgesetzt.
„Du musst Kevin sein." Sie zückt eine vergrößerte Kopie des Fotos von ihm, das seine Mutter bei der Schulanmeldung mit abgegeben hat. „Ich bin Eleanor-Beatrice, deine Patin für die erste Woche in der neuen Klasse."
Sie reicht ihm ein tiefblaues Armband, genau so eins, wie er es auf der Fahrt hierher bei den meisten gesehen hat. „Ach, und das ist für dich. Mit unserem wichtigsten Motto versehen, natürlich." Jetzt kann er endlich erkennen, was darauf gedruckt ist: „Null Toleranz bei Mobbing", Purpur auf Indigo. Und zwei vereinte Hände.
Längst hat er es übergestreift und richtet seine Frisur, um gleich einen guten ersten Eindruck zu hinterlassen. Sein Pony scheint in der gerade aufgegangenen Morgensonne zu glühen. Etwas ungeduldig winkt sie ihn heran: „Komm schon! Ich zeig dir alles".
Und nur zu gern folgt er ihr.